Brexit ganz persönlich, die Fünfte

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Den Ort Godalming kennen in Deutschland nicht viele Leute; er liegt etwa 60 Kilometer südwestlich Londons Richtung Portsmouth, das wiederum an der englischen Südküste liegt. Mitglieder des 1980 gegründeten deutsch-englischen Freundschaftskreises Mayen-Godalming jedoch sind dort regelmäßiger Gast, vor allem nachdem 1982 eine offizielle Partnerstadt zwischen beiden Städten gegründet wurde. In den ungeraden Jahren kommt eine Godalminger Delegation in die Stadt in der Osteifel, in den geraden Jahren erfolgt der Gegenbesuch. Ein bekennender Mayener gab mir den Tipp, doch einmal bei John Hindley nachzufragen, wie er die Sache mit dem Brexit sieht – also dem möglichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Gemeinschaft.

Hindley ist 1938 in Quetta/Indien (heute Pakistan) geboren. Sein Vater diente als Offizier der britischen Armee zeitweilig unter dem Befehlshaber Bernard Montgomery in Nordafrika, wo im Afrika-Feldzug gegen das Deutsche Heer (1941 bis 1943) der Vater des Autors dieser Zeilen unter Generalfeldmarschall Erwin Rommel diente. Ob beide Väter sich auf dem Schlachtfeld begegneten, lässt sich heute, mehr als 70 Jahre später, nicht mehr erfragen. Beide Väter sind schon gestorben.

Der junge Hindley besuchte Schulen in England und die Universität in Oxford. 1953 reiste er in den Schulferien zum Stationierungsort seines Vaters nach Bad Oeynhausen und Mönchengladbach-Rheindahlen. Auch John diente der britischen Armee; in den Jahren 1958/1959 war er zum Britischen Hauptquartier in Berlin abkommandiert. Der damals etwa 20-jährige Brite wird dem damals 9-jährigen Berliner Jungen und heutigen Autor wohl nicht über den Weg gelaufen sein, obwohl beide im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf lebten.

Hindley hielt sich in verschiedenen Ländern auf: Nigeria, Algerien und Niederlande; dort fand er seine Frau. Er verdiente sein Geld als Verleger von Fachbüchern für Naturwissenschaft und Technik; er ließ sich Mitte der 70er Jahre in England nieder und lebt heute im Ruhestand. Er berichtet, Mitglied in der German Aviation Research Society zu sein und natürlich auch im englisch-deutschen Freundschaftskreis Godalming-Mayen. Die Deutschen werden von ihm als „wonderful, lovely people“ geschätzt. Kürzlich habe er ein Interview mit Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, verfolgt. Schulz habe ganz gut gesprochen, kommentiert Hindley. Er verweist auf seine 4-Sprachigkeit: Englisch, Niederländisch, Deutsch und Französisch, und er sagt: „Ich bin europäisch, aber gegen europäische Institutionen.“ Er gibt zu bedenken, dass er sich selbst nicht für einen Politiker hält und seine Aussagen eher einem Gefühl entspringen. Er findet es gut für den Frieden, wenn die Länder (Europas) einen guten Zusammenhalt fänden, und problematisch wenn sie zu einem einzigen (Groß)Staat zusammenwüchsen. Er hält die Kosten für die europäische Bürokratie für zu hoch, zum Beispiel für den ständig wechselnden Tagungsort des Parlamentes von Brüssel nach Straßburg und zurück. Jedoch, mein Einwand, die Stadtverwaltung München (rund eine Million Einwohner) beschäftigt etwa 40.000 Menschen, die Europäische Union (rund 480 Millionen Menschen) etwa 28.000, verblüffte Hindley am anderen Ende der Telefonverbindung.

Die mich am meisten interessierende Frage „Brexit ja oder nein?“ ließ er offen: „Ich weiß es noch nicht.“ Er gehört damit zu jenen etwa 20 Prozent der Briten, die sich noch nicht entschieden haben. Er werde die Diskussionen vor dem Tag der Entscheidung – dem 23. Juni 2016 – verfolgen und die Vor- und Nachteile genau abwägen, sagt Hindley. Für die Sicherheit Europas hält er die Nato (Nordatlantisches Verteidigungsbündnis) für den sichereren Hafen als die EU. Doch hier scheinen Hindley zwei Dinge ein wenig durcheinander geraten zu sein. Eine Mitgliedschaft in der Nato ist etwas ganz anderes, als die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich verpflichtet haben, permanent aufeinander zuzugehen. Zum Schluss frage ich John, welche drei Wünsche er an die EU habe. Seine Antwort: „Keine aktuellen“.

Bettina Cornely (Jahrgang 1970) aus Mayen ist dem deutsch-englischen Freundschaftskreis Mayen-Godalming seit ihrer Kindheit verbunden. Ihr Vater gehörte zu den Gründungsmitgliedern; sie selbst übernahm vor Kurzen den Vorsitz des Freundschaftskreises. Schon als Kind und Jugendliche nahm sie am Partnerschaftsaustausch teil – wie selbstverständlich. Die Bekannten und Freunde aus Godalming gehören seither zu ihrem Leben dazu. Ein Brexit könnte diese Selbstverständlichkeit in Frage stellen. Wer die Briten sogar zur Familie rechnet, der würde sich vor den Kopf gestoßen fühlen, sollte sich ein Familienmitglied aus dem Kreis verabschieden und mitteilen, ich gehöre nicht mehr zu euch.

Doch soweit soll und sollte es nicht kommen, meint Bettina Cornely. Die Godalming-Fahrt der Mayener findet nach dem Entscheidungstag 16. Juni 2016 im Juli statt. Vermutlich wie gehabt, organisatorisch ohne Probleme – noch. Cornely: „Es ist jetzt alles so herrlich einfach.“ Die Fahrt, der Transfer, der Grenzübertritt, der Aufenthalt, das Preisniveau und manch anderes mehr. Die bisherigen Gespräche mit den englischen Partnern verliefen immer sehr höflich, freundlich und entspannt, erinnert sich die Vorsitzende. Sogar politische und religiöse Themen wurden und werden mit gebührender Zurückhaltung angesprochen, und hierbei gilt besonders: „Der Ton macht die Musik.“ In diesem Jahr wird von deutscher Seite sicher vorgetragen, dass man sich gar nicht vorzustellen vermag, dass GB nicht mehr zur Europäischen Union (EU) gehören könnte. Es sei nicht das erste Mal, dass Briten über einen Austritt diskutierten. Es sei doch klar, dass jede Gemeinschaft Zugeständnisse erfordere, sagt Cornely. Sie glaubt, dass die Folgen eines Austritts von denen, die entscheiden müssen, noch nicht bis zum Schluss durchdacht seien: „Ich hoffe, dass Vernunft herrscht!“

GB verlöre direkten Einfluss auf die Entwicklung der EU, sollten die Würfel tatsächlich auf „Brexit“ zeigen. Die Menschen der Nachkriegszeit wussten und wissen, was Völkerverständigung heißt. Deren direkte Nachfahren haben es ebenfalls mitgeteilt bekommen und bemühen sich, zum Beispiel durch Austausche die Fähigkeit zu bewahren, dauerhaft Ausgleich und Balance zu schaffen. Und die jungen Leute? Sie kennen nichts anderes, denken wohl, das einst Erworbene bleibe von allein erhalten. Eine stete Anstrengung ist notwendig – immer wieder und immer wieder neu. Bettina Cornely fördert ganz bewusst und mit einigem Aufwand diese Linie. Eine Satzungsänderung des als eingetragener Verein geführten Freundschaftskreises komme – gleich wie entschieden wird – nicht in Frage. Mit etwa 25 Mitgliedern wird der Freundschaftskreis in diesem Jahr nach England reisen und dann live miterleben, was die Partner zu der dann schon gefallenen Entscheidung zu sagen haben. Wir sind gespannt!


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